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Sternengeschichten Folge 682: Die Urwolke

Shownotes

Sternengeschichten Folge 682: Die Urwolke

"Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! Das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll."

Dieser Satz stammt von Immanuel Kant, dem deutschen Philosophen aus dem 18. Jahrhundert, den man eher für Aussagen kennt wie "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.", dem berühmten Kantschen Imperativ. Oder aber man kennt den Satz "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!". Das jedenfalls hat Kant sehr ausführlich getan und in den 80 Jahren seines Lebens haufenweise relevante philosophische Werke geschrieben. Nicht ganz so bekannt ist die Tatsache, dass Kant sich auch mit Astronomie beschäftigt hat. 1755 ist sein Buch "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" erschienen und daraus stammt der Satz, den ich zu Beginn dieser Folge zitiert habe. Und wie man aus Materie eine Welt bauen kann: Genau das hat Kant darin erklärt.

Und er hat es vor allem ohne Rückgriff auf irgendeine Art der göttlichen Schöpfung erklärt, was für die damalige Zeit außergewöhnlich war. Mit seinen Gedanken hat Kant im 18. Jahrhundert Entdeckungen vorweg genommen, die erst fast 200 Jahre später tatsächlich gemacht worden sind. Aber fangen wir am Anfang an und das ist diesem Fall wörtlich zu verstehen. Denn genau der Anfang, also die Entstehung von Sonne und Erde, der anderen Planeten und des ganzen Sonnensystems: Das war eines der zentralen Themen in Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels.

Es ist nicht möglich, den gesamten Inhalt von Kants astronomischer Forschung in einer Folge dieses Podcasts wiederzugeben. Er hat sich zum Beispiel ausführlich mit einer Darstellung der Theorien von Isaac Newton beschäftigt, die damals auch noch vergleichsweise neu waren. Kant hat sich dann - im Gegensatz zu Newton, auch intensiv darüber Gedanken gemacht, wo das alles herkommt. Er hat zuerst einmal festgestellt, dass es im Sonnensystem heute recht ordentlich zuzugehen scheint. Da ist die Sonne, die von sechs Planeten umkreist wird. Uranus, Neptun und Pluto waren damals ja noch nicht entdeckt. Alle bewegen sich in der selben Richtung um die Sonne und all ihre Bahnen liegen fast in der selben Ebene. Der Raum zwischen den Planeten ist leer und das war ein Problem. Denn wenn da nichts ist, dann kann es auch nichts geben, was die Bewegung der Himmelskörper irgendwie steuert; es gibt keine materielle Ursache für die Entstehung dieser Ordnung, weswegen Newton damals auch gesagt hat, dass es halt Gott war, der das alles so schön ordentlich eingerichtet und dann den Gesetzen der Gravitation überlassen hat, die Newton entdeckt hat.

Für Kant war das keine befriedigende Antwort. Und er hat sich etwas anderes ausgedacht. In seinem Buch schreibt er: "Ich nehme an: daß alle Materien, daraus die Kugeln, die zu unserer Sonnenwelt gehören, alle Planeten und Cometen bestehen, im Anfange aller Dinge in ihren elementarischen Grundstoff aufgelöset, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllet haben, darinn jetzo diese gebildete Körper herumlaufen." Oder anders gesagt: Die Sonne, die Planeten und die Kometen sind nicht fix und fertig von irgendeinem Gott geschaffen worden. Sondern sie sind entstanden, aus ihren "elementaren Grundstoffen", also aus einer Art von ursprünglicher Materie. Denn, so Kant, "Dieser Zustand der Natur […] scheinet nur der einfachste zu seyn, der auf das Nichts folgen kann. Damals hatte sich noch nichts gebildet. Die Zusammensetzung von einander abstehender Himmelskörper, ihre nach den Anziehungen gemäßigte Entfernung; ihre Gestalt, die aus dem Gleichgewichte der versammleten Materie entspringet, sind ein späterer Zustand. Die Natur, die unmittelbar mit der Schöpfung gränzete, war so roh, so ungebildet als möglich." Oder, wieder ein wenig moderner formuliert: Am Anfang war so wenig wie möglich; zwar nicht Nichts, aber eben nur ein Haufen ursprünglicher Materie. Und daraus hat sich das Sonnensystem, so wie wir es heute beobachten gebildet.

Ja, was denn sonst, könnte man aus heutiger Sicht einwenden. Aber die heutige Sicht ist eben die Sicht von heute, und sie kann nur deswegen die Sicht von heute sein, weil sie irgendwann früher einmal entwickelt worden ist. Und dieses "früher" war zur Zeit von Kant, als es noch ein durchaus revolutionärer Gedanke war, zu behaupten, dass das Sonnensystem entstanden ist und nicht durch Schöpfung erzeugt wurde. Man kann das mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin vergleichen. Dessen Werk "Über die Entstehung der Arten" ist erst mehr als 100 Jahre nach Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels erschienen und auch damals war es noch bei weitem nicht selbstverständlich, auf eine natürliche Entstehung zu verweisen und auf Gottes Schöpfung zu verzichten.

Kant hat sich also eine Art "Urwolke" aus Teilchen vorgestellt, die sich alle bewegt haben. Durch Zusammenstöße und ähnliches konnten diese Teilchen ihre Bewegung aufeinander übertragen, und so hat sich im Laufe der Zeit eine gemeinsame Drehrichtung und eine Bewegung in einer gemeinsamen Ebene eingestellt. Es gab, so Kant, verschiedene Arten von Teilchen. Manche waren ein wenig dichter als andere und konnten so eine größere Anziehungskraft ausüben. Und die Kraft der Gravitation hat dazu geführt, dass sich dieser Urstoff zu immer größeren Klumpen zusammengeballt hat, bis am Ende die Sonne, die Planeten und der Rest des Sonnensystems entstanden ist. Und die Himmelskörper bewegen sich deswegen so, wie sie es tun, weil die Teilchen beim Zusammenballen nicht einfach alle in gerader Linie aufeinander zugestürzt sind. Es haben sich Wirbel gebildet, die zu einer Rotation geführt haben. Kant hat das alles noch sehr, sehr viel ausführlicher erklärt. Aber das war auf jeden Fall die Grundidee: In der Vergangenheit hat es eine "Urwolke" gegeben, in der sich Teilchen chaotisch bewegt haben. Daraus hat sich zuerst die Sonne gebildet, die dann von einer rotierenden Scheibe aus Teilchen umgeben war, in der sich wiederum die Planeten gebildet haben.

Viele der Details die Kant in seinen Gedanken angeführt hat, sind aus heutiger Sicht falsch. Aber die grundlegende Hypothese der Entstehung des Sonnensystems aus einer großen Wolke ist exakt das, wovon wir auch heute ausgehen. Trotzdem hat es gedauert, bis die Arbeit von Kant entsprechend anerkannt worden ist. Man hat sein Buch kaum beachtet und auch der französische Astronom Pierre-Simon Laplace hat es nicht gekannt, als er über 40 Jahre später, im Jahr 1796, seine "Nebularhypothese" veröffentlicht hat. Darin hat er behauptet, die Sonne wäre früher von einer Art riesiger Atmosphäre umgeben, die, weil die Sonne sie so stark aufgeheizt hat, sich über den ganzen Bereich des heutigen Sonnensystems ausgedehnt hat. Als die junge heiße Sonne dann abgekühlt ist, ist auch die Atmosphäre geschrumpft und die Materie darin hat sich verdichtet. Sie hat quasi einen Haufen Ringe um die Sonne gebildet, aus denen dann später die Planeten entstanden sind. Das ähnelt der Theorie von Kant insofern, als dass auch hier die Himmelskörper aus einer Art von Gas entstehen, das sich verdichtet. Es unterscheidet sich aber auch deutlich, denn einerseits hat Laplace nicht erklärt, wie die Sonne entstanden ist und andererseits wissen wir heute auch, dass das mit der Entstehung des Sonnensystems eben nicht so gelaufen ist, wie Laplace sich das so vorgestellt hat. Kant war wesentlich näher an der Wahrheit. Aber als seine Arbeit dann, fast 100 Jahre nach der Veröffentlichung, vom französischen Astronom François Arago wiederentdeckt und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht worden ist, hat man sie quasi mit der von Laplace zusammengeworfen und heute spricht man deswegen oft von der "Kant-Laplace-Theorie" zur Entstehung des Planetensystems. Aber immerhin: Sowohl Kant als auch Laplace konnten mit ihren Hypothese auf göttliche Schöpfungsakte verzichten, was aus Sicht der Wissenschaftstheorie definitiv einen großen Fortschritt darstellt.

Heute wissen wir natürlich ein wenig genauer Bescheid als zur Zeit von Kant. Wir wissen, dass die "Urwolke" nicht nur der Ursprung des Sonnensystems war, sondern von ein paar zehntausend Sternen. Sie war ungefähr 65 Lichtjahre groß und die "Urmaterie" in ihr bestand aus Wasserstoff und Helium, mit ein bisschen Staub, der aus diversen Verbindungen andere, schwerere Elemente zusammengesetzt war. Diese Wolke hat sich durch ihrene eigene Schwerkraft zusammengezogen und ist in kleinere Fragmente "zerbrochen", die aber immer noch ein paar Lichtjahre groß waren. Diese kleineren Bereiche sind dann selbst wieder kollabiert, vermutlich angeregt durch Supernova-Explosionen in der Nähe, die das Gas und den Staub durcheinander gewirbelt haben. Aus einem dieser Fragmente hat sich das Sonnensystem gebildet; die Sonne war aber nur einer von ein paar tausend bis zehntausend Sternen, die aus dieser Urwolke entstanden sind.

Es ist erstaunlich, dass Immanuel Kant schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Idee zur Entstehung des Sonnensystems entwickelt hat, die so nahe am heutigen Stand des Wissens ist. Aber gut, das war auch nicht das einzige astronomische Thema, bei dem Kant erstaunlich weitsichtig war. Aber das ist ein Thema für eine andere Folge der Sternengeschichten. Kant hat in seinem Buch auch geschrieben "Die Schöpfung ist niemals vollendet." - und das gilt auch für das Erzählen von Geschichten.

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