Sternengeschichten Folge 670: Die Große Meteorprozession von 1913
Shownotes
Sternengeschichten Folge 670: Die Große Meteorprozession von 1913
"Gegen 9 Uhr oder kurz danach, als ich auf dem Heimweg von der Kirche war, sah ich einen großen Meteor zur Erde fallen, der einen Feuerschweif so lang wie der des Halleyschen Kometen hinter sich ließ. Dann, als ich mich nach Norden wandte, sah ich eine große schwarze Wolke, aus der, wie es schien, Sternschnuppen kamen, etwa 50, jede mit einer Feuerlinie auf ihrer Bahn, und sie verschwanden in einer großen schwarzen Wolke im Süden. Danach begann ein leises Grollen wie Donner."
So beschreibt eine Miss Floy Priest das, was sie am Abend des 9. Februar 1913 am Himmel über der kanadischen Stadt Appleby, ein Stück südlich von Toronto, gesehen hat. Sie war nicht die erste, die diese Himmelserscheinung beobachtet hat und sie war bei weitem nicht die letzte. Das, was da vor über 100 Jahren passiert ist, war ein einzigartiges Phänomen, dessen Ursprung bis heute nicht vollständig erklärt werden kann.
Alles hat um fünf Minuten nach neun Uhr Abends im westlichen Ontario in Kanada begonnen. Ein feurig-rot leuchtendes Objekt ist am Himmel aufgetaucht, immer größer geworden und hat einen Schweif entwickelt, der wie der eines Kometen ausgesehen hat. Menschen überall in der Region haben das Schauspiel beobachtet und später beschrieben. Für manche sah dieser Schweif aus wie der "Lichtschein aus der Tür eines Ofens in dem ein heftiges Feuer brennt". Andere haben gesagt, es würde wie der Strahl eines Suchscheinwerfers aussehen oder wie der Funkenflug aus einem Schornstein bei heftigen Wind. All diese Beschreibungen und auch die Aussagen von Floy Priest und jeder Menge andere Menschen hat der kanadische Astronom Clarence Chant von der Universität Toronto gesammelt. Er war es auch, der im Juni 1913 einen ersten umfassenden wissenschaftlichen Bericht über das "Außergewöhnliche meteorische Schauspiel" veröffentlicht hat, wie der Titel seiner Arbeit lautet.
Er selbst konnte die Erscheinung am Himmel nicht beobachten, hat sich aber große Mühe gegeben, so viele Daten zusammenzutragen, wie nur möglich und diese dann astronomisch auszuwerten. Der Meteor am Himmel bewegte sich in einer horizontalen Linie, was äußerst ungewöhnlich war. Die normalen, kleinen Meteore, die wir üblicherweise "Sternschnuppen" nennen, sausen schnell über den Himmel und ihre Bewegung scheint uns nach unten, zum Erdboden gerichtet zu sein. Das hier war aber alles andere als eine Sternschnuppe, wie Chant schreibt: "Hier waren Objekte, die sich gemählich bewegt haben und den glücklichen Beobachtern mehr als genug Zeit gegeben haben, sich mehrmals etwas zu wünschen, wenn sie das denn wollen würden". Und noch bevor die Aufregung über diese außergewöhnliche Leuchterscheinung vorbei war, sind aus Richtung Nordwesten weitere Meteore aufgetaucht, aus genau der selben Richtung wie der erste, die sich auch auf den selben Bahnen über den Himmel bewegt haben. Es waren Gruppen von zwei, drei oder mehr leuchtenden Punkten, die alle kleinere Schweife und Spuren aus "Funken" hinter sich herzogen. Ein weiterer Augenzeuge beschreibt das so:
"Ich ging westwärts, als etwa auf halber Höhe zwischen Horizont und Zenit ein großer Meteor erschien, der ungefähr nach Südsüdost zog und sehr langsam unterwegs war – jedenfalls für einen Meteor. Er hatte eine rötliche Farbe und einen langen Schweif. Als er ein Stück weit nach Süden gezogen war, zerbrach der Schweif in vier Teile, und jeder Teil schien einen Kopf anzunehmen und auf derselben Bahn weiterzufliegen, bis sie verschwanden – jedoch nicht plötzlich, wie es bei vielen Meteoren zu sein scheint. Diesem folgten sieben weitere, alle von gleicher Erscheinung, die einander in der gleichen Richtung und offenbar auf derselben Linie folgten. Der siebte und achte bildeten ein Paar und flogen parallel zueinander. Der erste war der einzige, der zerbrach. Es war kein Geräusch zu hören; jeder einzelne war 6 oder 8 Sekunden lang sichtbar."
Die langsame Bewegung und die lange Dauer der Erscheinung ist den meisten Menschen aufgefallen, ebenso wie die fast perfekte Formation, in der die Meteore über den Himmel gezogen sind. Einige haben das mit dem Flug einer Flotte von Luftschiffen verglichen, andere mit einer Eisenbahn und ihren Waggons, die über den Himmel fährt oder einem Schwarm von Wildgänse. Manche haben Dutzende von Meteoren gesehen, andere haben gesagt, es wären hunderte gewesen. Chant führt diese Unterschiede darauf zurück, dass die einen nur die Hauptkörper beschrieben haben, die anderen dagegen auch die vielen "Funken", die beim Auseinanderbrechen entstanden sind. Chant war auch überrascht über das enorme Ausmaß der Beobachtungen. Seiner Sammlung an Berichten nach haben Menschen aus einem Umkreis von 4000 Kilometer die selben Objekte am Himmel gesehen, was höchst ungewöhnlich ist für einen Meteor. Chant hat alle Beobachtungen ausgewertet und kam zu dem Schluss, dass sich die leuchtenden Objeket in einer Höhe von circa 40 bis 50 Kilometer befunden haben müssen. Sie haben sich mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 15 Kilometer pro Sekunde im Vergleich zum Erdboden bewegt und die größten von ihnen waren seiner Meinung nach um die 30 Meter groß.
Es war klar, dass hier etwas ungewöhnliches passiert ist, aber was genau? Es ist auf jeden Fall nicht außergewöhnlich - und das wusste man natürlich auch schon im Jahr 1913 - das es immer wieder Meteorschauer am Himmel zu beobachten gibt. Ich habe davon in anderen Folgen ja schon öfter erzählt. Manche Kometen und Asteroiden hinterlassen Spuren aus Staub entlang ihrer Umlaufbahn und wenn die Erde bei ihrer Bewegung um die Sonne diese Spuren aus Staub kreuzt, können wir kurzfristig sehr viel mehr Sternschnuppen und größere Meteore am Himmel sehen als sonst. Diese Meteorschauer finden regelmäßig zur selben Zeit im Jahr statt - zum Beispiel die Perseiden, die immer um den 13. August zu sehen sind oder die Leoniden im November. Da diese Sternschnuppen entstehen, weil die Erde sich durch eine Staubspur im All bewegt, scheinen sie auch alle vom selben Punkt des Himmels aus auf die Erde zu fallen. Bei den seltsamen Meteoren im Februar 1913 war das aber nicht so. Sie habe sich von einem Ende des Himmels zum anderen bewegt, parallel zum Horizont und sie waren viel länger sichtbar als die typischen Sternschnuppen.
Clarence Chant war überzeugt, dass die Erde hier nicht einfach nur auf eine größere Menge Staub aus dem All getroffen ist. Er ging davon aus, dass es sich um Objekte handelt, die zuerst die Sonne auf einer eigenständigen Umlaufbahn umkreist haben, dann aber der Erde nahe gekommen und von ihr eingefangen sind. Sie haben die Erde umkreist, wie eine Schar von Mini-Monden, bevor sie durch die Atmosphäre gebremst, zerbrochen und zerstört worden sind. Der amerikanische Astronom William Henry Pickering veröffentlichte in den 1920er Jahren ebenfalls ein paar Facharbeiten über das Ereignis und hat darin Chants Einschätzung im Wesentlichen zugestimmt.
Es gab aber auch andere Meinungen. Chants Kollege, der kanadische Astronomie Charles Wylie hat die ganze Angelegenheit im Wesentlichen für Einbildung gehalten und 1939 erklärt, dass die Beobachtung eines ganz normalen Meteors von ein paar Leuten in Toronto durch Medien und andere in der Astronomie zu einem außergewöhnlichen Phänomen gehypt wurde. Aber sieht man einmal davon ab, dass Wylies Argumente vom Rest der Astronomie als eher unwissenschaftlich angesehen wurden, haben weitere Untersuchungen schnell gezeigt, dass er definitiv falsch liegt. Wylie hat vor allem deswegen behauptet, dass das alles Unsinn sein muss, weil das Ereignis zwar in Kanada gesehen wurde, aber nicht in den USA. Eine Auswertung amerikanischer Zeitungen der fraglichen Zeit hat aber ergeben, dass es sehr wohl auch dort Beobachtungen gab, die die Berichte aus Kanada bestätigen. Man hat sogar Nachrichten aus Brasilien und Bermuda gefunden, die den Fall beschreiben.
Im Jahr 1991 hat der amerikanische Planetologe und NASA-Mitarbeiter John O'Keefe eine neue Interpretation der Ereignisse von damals veröffentlicht. Seiner Meinung nach handelt es sich um Material, das von Vulkanen auf dem Mond ins All geschleudert wurde und dann für einige Zeit einen Ring um die Erde gebildet hat, bevor die Stücke dann in der Atmosphäre verbrannt sind. Rein prinzipiell ist das kein unmöglicher Mechanismus, der aber nur dann funktioniert, wenn am Mond tatsächlich Vulkane ausbrechen. Wir wissen, dass das nicht passiert, aber O'Keefe hatte schon in den 1960er Jahren eine Hypothese entwickelt, um bestimmte Gesteine die in der Nähe von Einschlagskratern gefunden werden, als vulkanischen Auswurf vom Mond zu erklären. Das ist, wie gesagt, falsch, weil auf dem Mond kein Vulkanismus dieser Art stattfindet. Aber O'Keefe wollte die Idee anscheinend nicht fallen lassen und hat in den Ereignissen aus dem Jahr 1913 eine Möglichkeit gesehen, sie wieder ins Spiel zu bringen. Und übrigens, nur damit kein falscher Eindruck entsteht: John O'Keefe war kein Spinner; er hat jede Menge sehr relevante Arbeit gemacht und gilt als Pioneer der Astrogeologie. Aber auch schlaue Menschen können sich halt mal irren.
Und es ist ja auch definitiv nicht so, als könnten wir eine einwandfreie Erklärung für das liefern, was 1913 passiert ist. Selbst 100 Jahre nach dem Ereignis hat es die Wissenschaft immer noch beschäftigt. Zwei Astronomen aus den USA und Australien haben sich im Jahr 2013 nochmal neu auf die Suche nach Berichten von damals gemacht. Das Problem war, dass die Flugbahn der Objekte nicht nur über das Festland geführt hat, sondern natürlich auch über das Meer. Dort wohnt aber niemand - aber dort fahren Schiffe. Also hat man begonnen, in den Archiven nach Logbüchern von Schiffen zu suchen und ist tatsächlich fündig geworden. 7 neue Berichte konnten den alten hinzugefügt werden und wir wissen heute, dass die große Prozession der Meteoriten mindestens einen Weg von mehr als 11.000 Kilometer über die Erde zurück gelegt hat. Das ist mehr als ein Viertel des Erdumfangs und absolut außergewöhnlich. Irgendwo über dem Südatlantik verliert sich ihre Spur aber ist mehr als klar, dass es sich um ein einzigartiges Ereignis gehandelt hat.
Was damals wirklich passiert ist, werden wir vermutlich nicht mehr zweifelsfrei herausfinden können. Es ist eher nicht damit zu rechnen, dass ein Mondvulkan der Erde einen temporären Ring geschenkt hat und es war definitiv keine Flotte außerirdischer Raumschiffe - denn natürlich wird das Ereignis auch von den UFO-Fans immer wieder gerne in ihrem Sinn interpretiert. Am wahrscheinlichsten ist immer noch die Erklärung, die Clarence Chant damals gegeben hat: Die Erde hat sich zeitweilig einen kleinen Mond eingefangen. So etwas kommt immer wieder vor und weil die Bahnen dieser Quasi-Satelliten im Allgemeinen nicht stabil sind, entkommen sie meistens wieder aus der Anziehung der Erde und verziehen sich irgendwo in den Weiten des Sonnensystems. In diesem Fall aber dürfte der Mini-Mond in der Atmosphäre auseinandergebrochen sein und hat uns vor seinem endgültigen Verschwunden noch ein einzigartiges und eindrucksvolles Schauspiel geliefert.
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