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Sternengeschichten Folge 669: "Die gleißende Welt" von Margaret Cavendish

Shownotes

Sternengeschichten Folge 669: "Die gleißende Welt" von Margaret Cavendish

Diese Geschichte beginnt mit einer Geschichte und die beginnt so:

"Ein Kaufmann, der in ein fremdes Land reiste, verliebte sich heftig in eine junge Dame. Da er jedoch ein Fremder in diesem Land war und ihr sowohl an Geburt als auch an Reichtum weit unterstand, konnte er sich nur geringe Hoffnung machen, sein Verlangen zu erfüllen. Doch da seine Liebe mehr und mehr in ihm entbrannte, bis hin zur Missachtung aller Schwierigkeiten, fasste er schließlich den Entschluss, sie zu entführen. Dazu bot sich ihm umso leichter Gelegenheit, da das Haus ihres Vaters nicht weit vom Meer entfernt lag und sie häufig, begleitet von nicht mehr als zwei oder drei Dienerinnen, Muscheln am Ufer zu sammeln pflegte – was ihn umso mehr ermutigte, seinen Plan auszuführen. So geschah es, dass er eines Tages mit einem kleinen leichten Schiff, nicht unähnlich einem Postboot, bemannt mit einigen wenigen Seeleuten und wohl mit Proviant versehen – aus Furcht vor unvorhergesehenen Zwischenfällen, die ihre Reise vielleicht verzögern könnten – zu dem Ort kam, den sie gewöhnlich aufzusuchen pflegte; dort entführte er sie. Doch als er sich für den glücklichsten Mann der Welt hielt, erwies er sich als der unglücklichste; denn der Himmel, zürnend über seinen Raub, ließ einen solchen Sturm aufkommen, dass sie nicht wussten, was zu tun oder wohin sie steuern sollten. So wurde das Schiff, sowohl durch seine eigene Leichtigkeit als auch durch die gewaltige Kraft des Windes, so schnell wie ein Pfeil aus dem Bogen gen Nordpol getragen, und erreichte in kurzer Zeit das Eismeer, wo der Wind es zwischen gewaltige Eisblöcke trieb. Doch da es klein und leicht war, gelang es ihm – mit Hilfe und durch die Gunst der Götter gegenüber dieser tugendhaften Dame – sich so zu drehen und zu wenden zwischen diesen Klippen, als sei es von einem erfahrenen Lotsen und kundigen Seemann gesteuert. Aber ach! Die wenigen Männer, die sich darin befanden, wussten nicht, wohin sie fuhren, noch, was in einem so seltsamen Abenteuer zu tun sei, und da sie nicht für eine so kalte Reise gerüstet waren, erfroren sie allesamt; nur die junge Dame blieb am Leben – durch das Licht ihrer Schönheit, die Wärme ihrer Jugend und den Schutz der Götter. Es war auch kein Wunder, dass die Männer erfroren, denn sie wurden nicht nur bis an das äußerste Ende oder den Punkt des Pols jener Welt getrieben, sondern sogar bis zu einem anderen Pol einer anderen Welt, die dicht daran anschloss; sodass die Kälte an der Verbindung dieser beiden Pole eine doppelte Stärke hatte und unerträglich wurde. Schließlich wurde das Boot, immer weiter getrieben, in eine andere Welt gezwungen; denn es ist unmöglich, den Globus dieser Welt von Pol zu Pol zu umfahren, so wie wir es von Osten nach Westen tun; da die Pole der anderen Welt mit den Polen dieser zusammentreffen, lassen sie keinen weiteren Durchgang zu, um die Welt auf diese Weise zu umschiffen. Gelangt man zu einem dieser Pole, so bleibt einem nichts anderes übrig, als umzukehren oder in eine andere Welt einzutreten. Und damit ihr nicht daran zweifelt und denkt, dass in diesem Fall jene, die an den Polen leben, entweder zwei Sonnen auf einmal sehen müssten oder aber niemals für sechs Monate ganz ohne Sonnenlicht wären, wie man gewöhnlich glaubt: Ihr müsst wissen, dass jede dieser Welten ihre eigene Sonne hat, die sie erhellt, und dass jede ihre eigene Kreisbahn zieht. Diese Bewegung ist so genau und gleichmäßig, dass die eine die andere weder hindern noch stören kann; sie überschreiten ihre Tropen nicht. Und selbst wenn sie einander begegnen sollten, können wir es in dieser Welt kaum wahrnehmen, wegen der Helligkeit unserer Sonne, die uns näher ist und den Glanz der Sonne der anderen Welt verdeckt. Diese ist zu weit entfernt, um von unserem Sehvermögen erkannt zu werden, außer durch sehr gute Teleskope; und mit solchen haben geschickte Astronomen oft zwei oder drei Sonnen zugleich beobachtet."

Ein wilder Anfang für eine Geschichte, die noch sehr viel wilder weitergeht. Eine junge Frau wird entführt, landet am Nordpol, ihre Entführer erfrieren und sie stellt dafür fest, dass der Nordpol das Portal in eine andere Welt ist und auf einmal sind wir mitten in einer himmelsmechanischen Rechtfertigung dafür, dass man von unserer Welt aus gesehen nichts von dieser anderen Welt mitbekommt. Wer denkt sich sowas aus? Und vor allem: Wie geht die Geschichte weiter?

Das werden wir bald noch erfahren. Der Titel dieser Geschichte auf jeden Fall aber lautet: "The Description of a New World, Called The Blazing-World" oder auf deutsch: "Die Beschreibung einer neuen Welt, genannt die gleißende Welt", geschrieben von einer Frau namens Margaret Cavendish und zwar im Jahr 1666. Das war ein Jahr, in dem viel passiert ist. Ok, gut, das gilt für jedes Jahr in der Geschichte der Menschheit aber 1666 war aus wissenschaftlicher Sicht tatsächlich außergewöhnlich. In England ist damals die Pest ausgebrochen und ein junger Wissenschaftler namens Isaac Newton verlässt seine Universität und zieht sich aufs Land zurück. Dort macht er sich Gedanken über die Welt und aus diesen Gedanken entsteht das, was die moderne Naturwissenschaft bis heute prägt. 1666 war das Jahr, in dem Newton die Grundlagen für seine Gravitationstheorie entwickelt, für seine Theorien zur Optik, zur Infinitesimalrechnung in der Mathematik, und so weiter. Aber eigentlich soll es in dieser Folge ja nicht um Newton gehen, sondern um Margaret Cavendish. Ich habe Newton deswegen erwähnt, um zu zeigen, was man damals über die Welt gewusst hat und was nicht. Einerseits war das späte 17. Jahrhundert genau die Zeit, in der sich das entwickelt hat, was später zur modernen Physik, Astronomie, Biologie und so weiter geworden ist. Isaac Newton hat die Optik revolutioniert, neue Teleskope gebaut, einen Weg gefunden, um Phänomene in der Natur durch allgemeingültige mathematische Gesetze zu beschreiben, und so weiter. Andere, wie Robert Hooke haben frühe Mikroskope benutzt, um die unsichtbare Mikrowelt sichtbar zu machen. Überall haben Menschen angefangen, zu experimentieren, zu forschen und die Welt auf eine ganz neue Weise zu betrachten als vorher. Das bedeutet aber andererseits auch, dass man damals genaugenommen noch nicht viel von dem Wissen gehabt hat, das wir heute als "Naturwissenschaft" bezeichnen - es gab noch nicht mal das Wort "Naturwissenschaft", man hat das damals "Naturphilosophie" genannt. Alles stand damals zur Diskussion; alles konnte erforscht werden und alles wurde erforscht.

Das ist die Welt, in der Margaret Cavendish ihr Buch über die gleißende Welt geschrieben hat. Man kann sie durchaus als eine der ersten Science-Fiction-Autorinnen der Welt betrachten und ebenso durchaus als Wissenschaftlerin. Ihren genauen Geburtstag kennen wir nicht, aber sie wurde im Jahr 1623 geboren. Ihr Vater war ein Adeliger und Margaret wurde als Teenagerin Hofdame von Königin Henrietta Maria. 1645 traf sie William Cavendish, den 1. Duke of Newcastle und wurde seine Frau. William war der Wissenschaft durchaus zugetan und traf sich regelmäßig mit Leuten wie René Descartes, dem Astronom Pierre Gassendi, dem Mathematiker Marin Mersenne, dem Philosophen Thomas Hobbes und anderen Intellektuellen der damaligen Zeit. Und Margaret war Teil dieser Gruppe, auch wenn sie als Kind selbst keine vernünftige Ausbildung erhalten hatte. Aber sie hat sich für die Welt interessiert, sich aus Büchern jede Menge Dinge selbst beigebracht und schon früh angefangen, eigene Ideen zu formulieren und aufzuschreiben. Ab 1650 fing sie an, ihre Gedanken auch zu veröffentlichen und das unter ihrem eigenen Namen. Was damals definitiv unüblich war, zumindest für Frauen, die - wenn sie überhaupt irgendwas veröffentlichen konnten - das meistens anonym getan haben. Cavendish schrieb Gedichte, Texte über Naturphilosophie, Theaterstücke, literarische Texte und hatte auch keine Hemmungen, alles zu vermischen. Zum Beispiel in ihrem Gedicht "A Worlde made by Atomes" aus dem Jahr 1653:

"SMall Atomes of themselves a World may make,
As being subtle, and of every shape:
And as they dance about, fit places finde,
Such Formes as best agree, make every kinde."

Das Gedicht geht noch weiter und Cavendish hat noch einen ganzen Schwung weiterer Atom-Gedichte geschrieben, die quasi eine ganze Atomtheorie enthalten. Über das, was sich Cavendish über Atome gedacht hat; wo sie mit den Physikern ihrer Zeit übereinstimmte und vor allem wo sich ihre Theorie davon unterschieden hat: Darüber könnte man fast eine eigene Podcastfolge machen. Aber wir wollen ja wissen, wie es mit der "Gleißende Welt" weitergeht. Es geht vor allem mal sehr lange weiter: "Die gleißende Welt" ist keine Kurzgeschichte, sondern ein ganzer Roman, den ich deswegen hier auch nicht komplett nacherzählen kann. Die namenlose Frau, die entführt und am Nordpol gelandet ist, gelangt von dort auf jeden Fall in eine andere Welt. Dort leben seltsame Wesen; die alle von ihrem Aussehen nach halb Mensch und halb Tier sind. Es gibt Vogel-Menschen und Bären-Menschen und Wurm-Menschen, und so weiter. Und es gibt einen Kaiser, der sich spontan in die Heldin verliebt, sie heiratet und sie zur Kaiserin macht. Und die frischgebackene Kaiserin lässt erstmal all die unterschiedlichen Wesen antanzen, um sich diese neue Welt zu erklären zu lassen. Die Vogel-Menschen sind die, die sich mit Astronomie auskennen und sie erklären, dass die Sonne der gleißenden Welt vermutlich ein sehr großer, leuchtender Stein ist. Ob der Stein leuchtet, weil er heiß ist oder ob er leuchtet, weil er Licht von irgendwo her reflektiert: Darüber ist man sich noch uneins. Klar ist aber, dass es neben Sonne und dem Mond in dieser Welt keine Sterne gibt. Es gibt nur "Blazing Stars", sowas ähnliches wie Kometen, die aber still am Himmel stehen und manchmal einen Schweif haben, manchmal nicht und generell alle möglichen Formen haben. Und weil es dort am Himmel nur "Blazing Stars" gibt, wird die Welt auch die "Blazing World" genannt.

Man ist sich in der Blazing World generell ein wenig uneins, was die Erklärung der diversen Naturphänomene angeht. Die Kaiserin fragt die Vogelmenschen auch nach der Entstehung von Donner und Blitz und die einen sagen, dass es sich dabei um etwas handelt, wenn in den Wolken Kälte und Hitze aufeinander treffen. Die anderen waren der Meinung, der Donner entsteht, wenn sich in der Luft ein enormer "Blaz" bildet, ohne aber erklären zu können, was so ein "Blaz" eigentlich sein soll. Also schickt die Kaiserin die Bären-Menschen los, denn die sind in dieser Welt die Experimental-Philosophen, also die, die Instrumente wie Teleskope oder Mikroskope benutzen, um die Welt zu verstehen. Aber auch das funktioniert eher suboptimal. Die Beobachtungen der Bären-Menschen sind mehr verwirrend als hilfreich. Ein paar zum Beispiel sagen, ihre Beobachtungen zeigen, dass die Sonne stillsteht und die Erde sich um sie herum bewegt, ein paar sagen genau das Gegenteil und ein paar sagen, dass sich alle beide bewegen. Ebenso uneins ist man sich bei der Beobachtung des Mondes und der Blazing Stars. Die Kaiserin ist unzufrieden mit dieser Arbeit und befiehlt, die Teleskope zu zerstören, weil sie anscheinend nur falsche Informationen liefern anstatt der Wahrheit. Was die Bären-Menschen natürlich blöd finden, und am Ende dürfen sie ihre Instrumente behalten, müssen aber versprechen, ihren Streit nur innerhalb ihrer Schulen zu führen und den Rest der Welt damit nicht zu belästigen.

Die Kaiserin lässt sich von den anderen Wesen das Innere der Erde erklären, die Meere, und so weiter. Und sie hat politische Ambitionen, will die neue Welt unter einer Religion vereinen und sucht dazu Hilfe in der Welt der Geister - die es dort auch gibt. Die Geister raten ihr, einen Geist aus einer ganz anderen Welt in die Blazing World zu bringen, denn dieser Geist wäre super geeignet, alles über die neue Religion aufzuschreiben und zu sortieren. Dieser externe Geist ist aber niemand anderes als die Duchess of Newcastle, also quasi die Autorin selbst. Kaiserin und Duchess freunden sich schnell an; sie reisen auch gemeinsam in die Welt der Duchess um dort dem König bei einem großen Krieg zu helfen und es passiert noch jede Menge anderes absurdes Zeug. Am Ende stellt die Duchess fest, dass sie auch gerne eine eigene Welt hätte, über die sie herrschen kann, so wie die Kaiserin. Und es gibt zwar jede Menge Welten, unendlich viele, die alle über die jeweiligen Pole verbunden sind. Aber leider ist jede davon schon beherrscht und bewohnt - als beschließt die Duchess, sich ihre Welt in sich selbst zu erschaffen. Sie probiert dabei verschiedene Ansätze aus, mal so wie Aristoteles die Welt beschrieben hat, mal so wie der Philosoph Thomas Hobbes, und so weiter. Aber nichts funktioniert so wirklich und nichts passt ihr. Also erfindet sie einfach selbst eine Welt. Cavendish schreibt: "Und als diese Welt erschaffen war, erschien sie so kunstvoll und voller Vielfalt, so gut geordnet und weise regiert, dass es unmöglich ist, sie mit Worten auszudrücken – ebenso wenig wie die Freude und das Vergnügen, welche die Herzogin bei der Erschaffung dieser ihrer eigenen Welt empfand." und man kann das durchaus auch als Beschreibung ihrer eigenen, realen wissenschaftlichen Arbeit interpretieren.

"Die gleißende Welt" ist ein verwirrendes Werk. Es ist voll mit wissenschaftlichen Gedanken und voller Fiktion und damit durchaus das, was wir heute "Science Fiction" nennen. Cavendish baut ihre eigenen Vorstellungen über den Aufbau der Welt ein, gibt aber auch gleichzeitig die wissenschaftlichen Kontroversen ihrer Zeit wieder. Es ist aber auch ein Buch, in dem über politische und philosophische Konzepte diskutiert wird und vor allem ein Buch, in dem es zwei Frauen sind, die die Welt führen, gestalten und am Ende sogar erschaffen. "Die gleißende Welt" ist also nicht nur ein frühes Werk der Science Fiction, sondern auch ein früher feministischer Text.

Margaret Cavendish hat die Wissenschaft nicht revolutioniert; was unter anderem auch daran gelegen hat, dass sie die Wahrnehmung der Sinne immer über die mit Instrumenten gewonnenen Erkenntnisse gestellt hat. Sie hielt Teleskope, Mikroskope, und so weiter für unzuverlässig und die daraus gewonnenen Daten für nicht objektiv, wie es ja auch die Bären-Menschen aus der gleißenden Welt demonstriert haben. Aber Cavendish war eine Frau, die sich auf eine Art Gedanken über die Welt gemacht hat, die - zumindest nach damaligen Maßstäben - definitiv wissenschaftlich waren. Und sie war im Jahr 1667 auch nicht unverdient die erste Frau, die in die Royal Society eingeladen wurde, um dort mit den wissenschaftlichen Größen des 17. Jahrhunderts zu diskutieren.

Margaret Cavendish ist am 15. Dezember 1673 gestorben, im Alter von 50 Jahren. Und am besten beende ich diese Folge mit dem, was sie in der Einleitung zu "Die gleißende Welt" geschrieben hat:

"Auch wenn ich weder Heinrich der Fünfte noch Karl der Zweite sein kann, so will ich doch versuchen, Margareta die Erste zu sein. Und obwohl ich weder Macht, Zeit noch Gelegenheit habe, eine große Eroberin zu sein wie Alexander oder Cäsar, so will ich doch, eher als auf die Herrschaft über eine Welt zu verzichten – da mir Fortuna und die Schicksalsmächte keine verliehen haben – mir meine eigene erschaffen."

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