Sternengeschichten Folge 504: Die 21-Zentimeter-Linie des Wasserstoffs
Shownotes
Sternengeschichten Folge 504: Die 21-Zentimeter-Linie des Wasserstoffs
1.420.405.751,768 Hertz. Diese Frequenz entspricht bei elektromagnetischer Strahlung einer Wellenlänge von exakt 21,106114054160 Zentimetern. Und genau darum geht es heute. Die Nachkommastellen lasse ich im Folgenden aber weg und werde mich darauf beschränken, von der 21-Zentimeter-Linie zu sprechen. Und bevor ihr euch jetzt fragt, wieso ich auf die komische Idee komme, eine ganze Folge der Sternengeschichten einer einzigen Wellenlänge zu widmen: Abwarten!
Fangen wir mal mit der Vergangenheit an. Nicht mit dem Urknall, obwohl wir zu dem auch noch kommen werden. Wir gehen zurück in die 1940er Jahre, in die Niederlande. Die waren damals zwar von Deutschland besetzt, aber die holländischen Astronomen kamen trotzdem dazu, sich immer wieder mal zu treffen und über die Forschung zu diskutieren. Einer dieser Astronomen war Jan Hendrik Oort - den ihr vielleicht noch von Folge 321 kennt, als es um die Oortsche Wolke ging, also den Bereich voller Kometen, der unsere Sonne in großer Ferne umgibt. Damals hat Oort aber angefangen, sich für die Radioastronomie zu interessieren. Die war zu der Zeit noch recht neu; die Pioniere der Radioastronomie wie Karl Jansky oder Grote Reber hatten ihre ersten Experimente und grundlegenden Ergebnisse über Radiowellen aus dem Universum gerade erst publiziert. Oort war schnell klar, was für ein Potenzial in der Beobachtung von Radiowellen liegen könnte. Wenn man zum Beispiel die Struktur und den Aufbau der Milchstraße verstehen will, dann muss man möglichst viele Sterne dort beobachten und natürlich auch Sterne, die in allen Bereichen der Milchstraße liegen. Aber wenn wir von der Erde in Richtung der galaktischen Ebene schauen; also der Scheibe in der sich die Spiralarme befinden, dann sehen wir da nicht nur Sterne, sondern auch sehr viele sehr große Wolken aus kosmischen Staub. Was an sich auch interessant ist, aber noch interessanter hätte Oort es gefunden, wenn er auch sehen hätte können, was sich hinter den Staubwolken befindet. Das ging aber nicht, weil das normale Licht da nicht durch kommt. Das heißt: Nach ein paar tausend Lichtjahren war Schluß; weiter konnte er nicht schauen und das reichte nicht, um die Struktur der Milchstraße wirklich gut zu verstehen. Aber die Radiowellen, mit ihrer viel größeren Wellenlänge als das normale Licht, sollten da eigentlich durch kommen.
Insbesondere war Oort daran interessiert, welche Spektrallinien man im Radiobereich sehen kann. Drüber habe ich ja auch schon öfter gesprochen, fasse es aber noch mal sehr vereinfacht zusammen: Atome und Moleküle können ganz bestimmte Wellenlängen der elektromagnetischen Strahlung absorbieren oder aussenden. Jedes Atome macht das bei einer ganz charakteristischen Wellenlänge und das ist schon mal super, weil man sie so identifizieren kann. Wenn ich zum Beispiel feststelle, dass im Licht eines Sterns ganz bestimmte Wellenlängen fehlen, wenn ich also dort bestimmte Spektrallinien finde, dann kann ich die den jeweiligen Atomen zuordnen und so bestimmen, woraus der Stern besteht. Umgekehrt geht es aber auch: Die Atome der interstellaren Gaswolken können elektromagnetische Strahlung bei ganz konkreten Wellenlängen aussenden und wenn ich die finde, weiß ich nicht nur, dass da eine Wolke ist und woraus sie besteht. Ich kann auch probieren, die Doppler-Verschiebung zu messen. Wenn das, was die Strahlung aussendet, sich auf uns zu oder von uns weg bewegt, dann verändert sich die Frequenz der Strahlung und aus dem Ausmaß der Verschiebung kann man die Geschwindigkeit der Bewegung berechnen. Das ist der gleiche Effekt, der die Tonhöhe der Sirene eines Einsatzfahrzeuges verändert, wenn es an uns vorbei fährt. Oort hat sich also gedacht: Wenn da irgendwo fern im All Gaswolken sind, die Spektrallinien erzeugen, und ich deren Dopplerverschiebung messen kann, dann weiß ich, wie sich das Zeug dort bewegt. Und kann bestimmen, wie die Milchstraße sich bewegt, wo die großen Gaswolken sind, wie die Materie verteilt ist, und so weiter. Und wenn es sich um Spektrallinien im Radiobereich handelt, dann kommen die auch durch die nervigen Staubwolken durch!
Aber bevor man solche Messungen anstellen kann, muss man erst mal wissen, wo genau im Radiobereich Spektrallinien sind beziehungsweise ob da überhaupt welche sind. Also hat Oort einem Studenten die Aufgabe gegeben, das mal auszurechnen. Dieser Student war Hendrik Christoffel van de Hulst und der hat sich gedacht, er fängt am besten mal mit der Untersuchung von Wasserstoff an. Dieses chemische Element ist ja mit Abstand am häufigsten im Universum; es ist direkt beim Urknall entstanden; so gut wie alles am Anfang war Wasserstoff und auch die großen Gaswolken in den Galaxien bestehen fast komplett aus Wasserstoff.
Und um zu verstehen, was van de Hulst am Ende rausgekriegt hat, müssen wir uns ein wenig mit einem kniffligen Thema beschäftigen. Es geht um etwas, das sich "Spin-Flip" nennt. Oder "Hyperfeinstrukturübergang". Auf jeden Fall aber geht es um ein simples Wasserstoffatom in seinem Grundzustand. So ein Ding besteht aus einem Proton, das von einem Elektron umkreist wird. Obwohl das nicht ganz richtig ist; wir wissen ja mittlerweile, dass Atome nicht wie Mini-Planetensysteme funktionieren; da sind keine kleinen Kugeln die einander umkreisen sondern nur quantenmechanische Wellenfunktionen. Aber wir bleiben vorerst mal bei dem einfachen Bild. Das tun wir auch, wenn es um den Spin geht. Der ist echt hinterhältig… Der Spin ist eine Eigenschaften, die ein Teilchen haben kann. "Spin" heißt so viel wie "Drehung" und meistens stellt man sich das auch genau so vor. Also als die Drehung, die ein Proton oder ein Elektron durchführt. Nur das - wie ich grade schon gesagt habe - ein Proton keine Kugel ist und ein Elektron auch nicht und sich beide daher auch nicht um ihre Achse drehen können. Es gibt tatsächlich keine anschauliche, alltägliche Entsprechung mit der man erklären könnte, was der Spin eines Elementarteilchens ist. Wenn man nicht tief in die Mathematik der Quantenmechanik eintauchen will, dann bleibt einem nix anderes übrig als zu sagen: Man kann Teilchen in der Quantenmechanik eine bestimmte Eigenschaft zuschreiben und die wird eben "Spin" genannt. Und wenn wir jetzt ein Wasserstoff-Atom anschauen, das aus einem Proton und einem Elektron besteht, dann können deren Spins entweder parallel sein oder antiparallel. Ich weiß, das ist nicht sehr befriedigend. Also tun wir vielleicht doch einmal so, als wären die beiden Teilchen kleine Kugeln (behalten aber im Hinterkopf, dass sie das nicht sind!). Dann kann man sich vorstellen, wie diese Kugeln sich um ihre Achsen drehen. Wenn sie das beide in die gleiche Richtung tun, dann sind ihre Spins parallel. Wenn sie sich in unterschiedliche Richtungen drehen, sind die Spins antiparallel. Aus weiteren quantenmechanischen Gründen, auf die ich jetzt wirklich nicht mehr eingehen will - es hat etwas mit magnetischen Dipolmomenten zu tun und so weiter - hat das Wasserstoff-Atom unterschiedlich viel Energie, je nachdem ob es in einem parallelen oder antiparallelen Zustand ist. Im antiparallelen Zustand steckt im Wasserstoff-Atom ein kleines bisschen weniger Energie als wenn es in einem parallelen Zustand ist. Was heißt: Wenn es von einem parallen in einen antiparallen Zustand wechselt, muss es ein bisschen Energie loswerden, was es tut, in dem es ein klein wenig elektromagnetische Strahlung abgibt. Und wenn man die beiden Energiewerte ausrechnet, den Unterschied dazwischen bestimmt , kann man daraus direkt die Wellenlänge dieser Strahlung berechnen. Genau das hat van de Hulst getan und das Ergebnis war eine Wellenlänge von 21 Zentimetern, also Strahlung im Radiobereich.
Wer ein wenig Ahnung von der Quantenmechanik der Atome hat könnte sich jetzt denken: Ja und? Das ist doch normal. Machen Atome doch dauernd - sie kriegen von irgendwo her Energie, wechseln in einen höherenergetischen Zustand und dann aber sofort wieder zurück in den Grundzustand mit niedriger Energie. Und die aufgenommene Energie strahlen sie dabei halt ab. Was ist da jetzt so außergewöhnlich an der Spin-Flip-Sache und den 21 Zentimetern?
Ok - es stimmt, dass Atome immer gerne in ihrem Grundzustand sind und schnell dahin wechseln, wenn sie mal in einem höher-energetischen Zustand geraten. Aber eben nicht immer. Es gibt etwas, das in der Astronomie sehr dramatisch als "verbotener Übergang" bezeichnet wird. Damit meint man nichts, was durch Naturgesetze tatsächlich verboten, also unmöglich ist. Sondern nur sehr, sehr unwahrscheinlich. Damit ein Wasserstoffatom per Spin-Flip 21-Zentimeter-Strahlung aussenden kann, muss es erst mal aus seinem antiparallelen Zustand in den parallelen Zustand geschubst werden. Dazu braucht es die richtige Menge an Energie und die darf nicht sehr groß sein; der Unterschied zwischen parallel und antiparallel ist winzig (deswegen heißt das ganze auch "Hyperfeinstrukturübergang). Und wenn ein Wasserstoffatom mal in einem parallelen Spin-Zustand gelangt ist, dann braucht es im Schnitt 10 Millionen Jahre, bis der Spin des Elektrons spontan wieder zurück klappt und dabei Energie ausgesandt wird. Bei irgendwelchen Experimenten im Labor braucht man also gar nicht darauf warten, dass so etwas passiert.
Und auch Hendrik van de Hulst war skeptisch, ob man jemals eine 21-Zentimeter-Linie beobachten können würde und hat das in seiner Veröffentlichung zum Thema im Jahr 1945 auch angemerkt. Aber andere Wissenschaftler waren ein wenig optimistischer. Immerhin gibt es im Universum ja wirklich sehr, sehr viel Wasserstoff. Und angesichts des Alters des Kosmos sind 10 Millionen Jahre jetzt auch nicht so wahnsinnig viel. Eigentlich sollte sich da draußen trotz allem immer eine ausreichend große Anzahl an Wasserstoff-Atomen finden, die gerade in einem parallen Spinzustand sind und per Spin-Flip entsprechende Strahlung aussenden. Der Meinung war auch der amerikanische Astrophysiker Harold Irving Ewen, der gemeinsam mit seinem Doktorvater Edward Mills Purcell eine entsprechende Antenne gebaut hat und im Jahr 1950 die 21-Zentimeter-Strahlung aus dem All tatsächlich nachweisen konnte.
Und seitdem ist die Beobachtung dieser Strahlung ein enorm wichtiges Instrument der Astronomie geworden. Man hat damit die Milchstraße vermessen, so wie Oort sich das gedacht hat. Man kann damit herausfinden, wo im Universum die großen Wolken aus Wasserstoff sind, aus denen Sterne entstehen. Oder die Strahlung des Wasserstoffs benutzen, um die Masse ferner Galaxien abzuschätzen. Was man damit auch machen kann: Dorthin schauen, wo noch gar keine Sterne sind. Womit wir jetzt am Ende doch noch am Anfang angekommen sind, nämlich beim Urknall. Im jungen Universum gab es keine Sterne. Es gab nur gigantische Wolken aus Wasserstoff, mit ein bisschen Helium darin. Da hat noch kein Stern geleuchtet; die mussten erst aus genau diesen Wolken entstehen. Und als sie das getan haben, ein paar hundert Millionen Jahre nach dem Urknall, hat das Licht dieser allerersten Sterne im Universum den Wasserstoff in den übrig gebliebenen Wolken ionisiert. Der Wasserstoff, von dem ich vorhin die ganze Zeit erzählt habe, war nicht ionisiert. Das Proton, das den Atomkern des Wasserstoffs darstellt, hatte noch ein zugehöriges Elektron in seiner Hülle. Wenn man aber genug Energie auf ein Atom loslässt, zum Beispiel das helle Licht junger Sterne, dann kann die das Elektron aus der Hülle quasi rauskicken. Und ein Atom, das weniger Elektronen besitzt als es sollte, nennt man ionisiert. Das ist wichtig, denn die 21-Zentimeter-Strahlung gibt es ja nur, wenn Proton und Elektron zusammenarbeiten. Ein einsames Proton ohne Elektron strahlt nicht.
Also: Im frühen Universum gab es jede Menge Wasserstoff, nicht ionisiert. Der dementsprechend auch 21-Zentimeter-Strahlung aussendet. Dann aber haben die ersten Sterne angefangen zu leuchten. Sie haben den Wasserstoff ionisiert, der hat aufgehört 21-Zentimeter-zu-strahlen und erst später wieder damit angefangen, als sich die Protonen wieder ein paar herumfliegende Elektronen geschnappt haben. Oder anders gesagt: Wenn man 21-Zentimeter-Strahlung aus weiter Ferne beobachtet; also Strahlung die sehr, sehr lange zu uns unterwegs war und damit sehr früh im Universum entstanden sein muss, dann sollte da irgendwo plötzlich eine Lücke sein.
Wir sollten viel Strahlung von ganz früher sehen, dann irgendwann weniger und dann wieder mehr von der Strahlung die jünger ist. Und wenn wir genau bestimmen, aus welcher Zeit diese Lücke stammt (was wir über die Doppler-Verschiebung tun können, denn die sagt uns ja, wie schnell sich das Zeug bewegt und weil sich dank der Expansion des Universums alles umso schneller von uns fort bewegt, je weiter es weg ist, folgt daraus die Entfernung), wenn wir also wissen, wann der Wasserstoff kurz mal aufgehört hat zu strahlen, dann wissen wir auch, wann die ersten Sterne angegangen sind. Und was soll man sagen: 2018 hat man genau das gemessen! Einen Abfall der 21-Zentimeter-Strahlung circa 180 Millionen Jahre nach dem Urknall.
Es ist natürlich immer noch ziemlich schwierig, diese Strahlung exakt zu messen. Und die Ergebnisse sind ebenfalls nicht absolut exakt. Aber mit der 21-Zentimeter-Strahlung des Wasserstoffs können wir dorthin schauen, wo es keine Sterne gibt. Hinein in die dunkle Epoche des Universums, fast bis ganz zurück an den Anfang. Und spätestens jetzt sollte allen klar sein, wieso ich eine ganze Folge lang über eine einzelne Wellenlänge gesprochen habe.
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